Ein kleines idyllisches Dörfchen mit elf Häusern in die thüringische Landschaft geworfen, in dem es keinen Netzempfang, dafür aber ganz viel Zeit für Lyrik gibt? Genau das Richtige für mich, dachte ich, und habe mich für den Workshop mit Lyriker Andreas Altmann im Rahmen des Festivals Lyrik über Land in Vollradisroda beworben. Hier meine Eindrücke zu einem ganz besonderen Endseptemberwochenende.
Vorspann: Der Abend vor dem Festival
Obwohl das Örtchen in den PLZ-Bereich 9 fällt, liegt es knapp neben Jena, sodass ich auch am ersten Abend gleich mit Schillers Zuhause Bekanntschaft gemacht habe. Zumindest so halbwegs. Nachdem ich eingecheckt hatte, wurde ich von Romina Nikolic in die Stadt entführt. Viel Zeit zum Erkunden der Stadt blieb jedoch erstmal nicht, schließlich wartete der ein oder andere Drink im Theatercafe ums Eck auf uns. Aber zumindest an den ehrwürdigen Mauern entlanggeschlendert bin ich. Das Theatercafé selbst hätte auch Schillers Schreibzimmer sein können. Am Ende des Raums posierte eichenschwer ein bis an die Decke gefülltes Bücherregal, die weinroten Tapeten schmückten goldene Blätterranken. Am Eingang gab es einen einladenden Tresen, Getränke und Speisen konnten direkt dort von der Tageskarte bestellt werden.
Natur & Psyche: Lyrikwerkstatt mit Andreas Altmann
Nachdem Weinschorle und Flammkuchen am Abend zuvor sehr lecker waren und es etwas später wurde, bin ich Samstagmorgen gegen 9 Uhr noch etwas übermüdet zum Workshop gestartet. In den weiten Feldern neben etwas holprigen Straßen kreuzten wir zuerst einen Steinbruch, dann einen Windpark. Es ist mir ein Rätsel, warum ich beim Anblick massiver Windräder immer so melancholisch werde. Ich glaube, sie erinnern mich schlichtweg an das Gefühl von grenzenloser Freiheit am Ufer der Nordsee. Als Kind war ich regelmäßig mit meinen Eltern dort, die frische Meeresluft sollte mich von meinem Asthma heilen. Und es erinnert mich an Muscheln sammeln im Watt. Mit klobigen gelben Gummistiefeln.
In Vollradisroda angekommen, wurden wir gleich herzlich im Waldgasthof ” Zu den vier Linden” begrüßt und durften uns im kleinen, schnuckeligen Verkaufszimmer einquartieren. Während ich damit beschäftigt war, den ganzen schönen Krimskrams ringsum zu begutachten, trödelten weitere Teilnehmer ein. Neben Sigune Schnabel, die ich schon vom Finale des Literarischen März 2017 kannte, hatte sich Andreas Altmann noch für die Lyriker:innen Hermine Vulturius, Anna Zepnick, Manuela Bibrach und Konstantin Stawenow als Teilnehmer entschieden. Nach einer ersten Vorstellungsrunde, in der jeweils einer den anderen mit kurzen Lebenseckdaten und einem Gedicht vorstellte, haben wir uns zum Warmwerden über das Schreiben und den Literaturbetrieb unterhalten.
Den Workshop wollte Andreas Altmann gerne unter das Motto Natur & Psyche stellen. So waren wir in der ersten Runde aufgefordert, uns draußen irgendwo hinzusetzen und über Zeichenskizzen und Kritzeleien Dinge aus unsere Kindheit hervorzukramen. Für ihn sei das direkte Wahrnehmen sehr eng mit dem Freilegen von Erinnerung verbunden, so Andreas Altmann. Es sei eine Tür, die sich über die Natur öffnen kann. Die direkten Einflüsse unser Umwelt als Kippschalter zur Vergangenheit… Das erinnert mich ein wenig an das, was Ulrike Draesner beim Literarischen März nach meiner Lesung zu mir meinte: Da ist eine Falltür, machen Sie die auf, da wollen wir rein.
Nun gut. Ich weiß bis heute nicht, ob ich sie gefunden habe, diese besagte Tür. So richtig wohl nicht, sonst hätte ich in den letzten Jahren mehr geschrieben. Vielleicht habe ich einen Spalt gefunden. Immerhin. Auch bei der Schreibübung in Vollradisroda wollte das nicht so recht gelingen. Ich habe aber beim Versuch zumindest eine mögliche Erklärung dafür gefunden, warum: Ich sitze sprachwörtlich auf meiner Kindheit. Aufgrund meines Studiums wohne ich seit einigen Jahren wieder Zuhause. Es gibt also keine Falltür zur Vergangenheit, sondern eine Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart. Außerdem habe ich erneut erkannt, dass meine Tür zur Sprache schlicht andere Menschen sind und das, was sie in mir auslösen. So habe ich mich also mitten in eine Wiese gesetzt und über den Abend im Theatercafé geschrieben.
Poetische Spaziergänge: Vaterfiguren, Flüsse & Lana del Rey
Neben dem Workshop war vor allem das Programm des Lyrikfestivals ein Highlight. Die Verantwortlichen hatten verschiedenste Lyriker:innen eingeladen und auch Andreas Altmann und Romina Nikolic sollten lesen. Gemäß dem Konzept ging es Nachmittags erst mal raus ins Freie. In zwei Runden marschierten wir durch das kleine Örtchen, um dann an unterschied- lichen Settings den Lesungen von Andreas Altmann & Christian Schönau und Siljarosa Schletterer & Mikael Vogel zu lauschen.
Ende September zwar das zwar schon etwas frisch, aber es hat sich gelohnt. Es war faszinierend zu hören, wie die Texte der jeweiligen Duos harmonierten und toll, so in Decken eingemummelt, den Gedichten zu folgen. Während die Lesung von Andreas Altmann & Christian Rosenau Kindheitserinnerungen und Verluste der Vergangenheit umkreiste, traten bei Mikael Vogel & Siljarosa Schletterer die Themenkomplexe Tier und Wasser in Austausch. Die neueren Gedichte spiegelten für mich eine berührende Begegnung von Angst und Hoffnung. Gefühle, die uns allen aus der letzten Zeit wohl sehr gut vertraut sein sollten. Mein Lieblingsgedicht des Nachmittags: Mikael Vogels Zwiegespräch mit Lana Del Rey – wenn man es so nennen mag.
Erinnerungen sammeln: Lesung mit Lutz Seiler
Worauf ich mich ganz besonders gefreut habe, war die für den Abend angesetzte Lesung mit Lyriker und Autor Lutz Seiler. Ich habe mir vor etlichen Jahren den ersten Gedichtband von ihm gekauft und bin seitdem fasziniert von dieser Kombination aus Verknappung und Rhythmus. Viele der Gedichte, wie auch seine Prosatexte, beschäftigen sich mit dem Aufwachsen in der DDR und dem Teutoburger Wald, dessen Kiefern sich immer wieder zwischen die Zeilen schleichen – dabei wolle er nun wirklich keine Lesung nur über Kiefern geben, wie er am Abend verlauten ließ und damit für Lacher sorgte.
Insgesamt ist es eine Heidenfreude Lutz Seilers Vortrag zu folgen. Er changiert zwischen witzig-charmant und melancholisch-ernst, und so macht es auch gar nichts, wenn man nicht mit allen Gegebenheiten seiner Texte vertraut ist. Schon wie letztens, als ich ihn online im Rahmen der Literaturtage Heidelberg hören durfte, war es insbesondere ein Gedicht, dass mich nachdrücklich beeindruckte: sitzen, trinken aus dem Kapitel laweder lavendel des aktuellen Bandes Schrift für blinde Riesen. In dem Erna Alixe Torno gewidmeten Text erzählt Lutz Seiler vom langsamen Ent-Schwinden einer Person aufgrund von Krankheit und wie selbst die Welt ringsum sich aufzulösen beginnt. Zumindest ist das das, was ich beim Zuhören und Lesen wahrnehme.
Begleitet wurde Lutz Seiler musikalisch von Falk Zenker auf der Gitarre. Mit dem beheizten Kaminofen im Hintergrund, einem Glas Wein in der Hand und der Atmosphäre zur späten Stunde hatten seine Songs mal etwas Einwiegendes, mal etwas Hypnotisierendes. Als würde man auf Reisen gehen, ganz für sich, in Gedanken. Insbesondere bei seinem Titel “Das Windspiel“, bei dem neben looping auch harmonic tubes zum Einsatz kamen. Und da wären wir thematisch ja wieder ein bisschen bei meinen Windrädern. Wind als poetische Klammer für das Wochenende in Vollradisroda, sozusagen. Und eigentlich passt das ganz gut. Wind ist Bewegung. Bewegung ist Zukunft. Damit also auf viele neue Projekte und für das frischgestartete Lyrikfestival Lyrik über Land alles Gute. Cheers.
Wenn du wissen willst, was man sonst so machen kann, um seine Kreativität zu wecken, findest du mehr dazu hier. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach? – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Wenn du neugierig bist, was ich mache, wenn ich nicht gerade Gedichte schreibe, gehts hier lang. SpuTe – eine Alternative zur Germanistik? – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Und von meinem letzten Reisetrip vor Jena erzähl ich hier: Seefestspiele Bregenz 2022: Puccinis Madame Butterfly – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Hinweis: unbezahlte Werbung / unbezahlte Verlinkung
Ich denke, du bist am richtigen Ort gewesen. Das, was du erzählt hast, ist eigentlich deine Welt und auch die Welt in der du schreiben kannst. Wenn es geht, mach das öfters. Das tut dir gut. So gut wie damals in Frankreich, weißt du noch? Das hat doch den Anlass gegeben, den neuen Weg zu gehen.
Liebe Edith, da hast du sicherlich recht. Es tut sehr gut und ich merke, dass es mir fehlt. Leider ist es hier in der Gegend sehr schwer, etwas ähnliches zu tun oder gar regelmäßig. Aber mal sehen 🙂