Blutbuchen sind gewöhnliche Buchen. Nur mit der Besonderheit, dass sie den Farbstoff Anthocyan nicht abbauen und sich somit durch ihr rotes Blätterwerk von ihren Artgenossen unterscheiden. Der Begriff Non-Binarität beschreibt Menschen, die sich nicht in die gängige, dichotome Geschlechterkonstruktion einordnen möchten oder können. Zu ihnen gehört auch Kim de l’Horizon. Was das eine mit dem andern zu tun hat, beantwortet Kim in einem grenzüberschreitenden Romandebüt. Ein Annäherungsversuch.
Ein Baum: Familientradition und Arche Noah
Das erste Mal begegnet dem/r Leser:in die Blutbuche, als das Kind sich nach einem Spaziergang mit Vater und Mutter unter der Blutbuche im Garten versteckt. Die Eltern hatten sich zuvor gestritten; nun will es dort warten, bis es im abfallenden Laub unsichtbar wird. Ab diesem Moment flieht es immer wieder vor der “messerscharfen Kälte” der “Meer” (schwz. für Mutter) unter die Äste des uralten Baums. So erzählt Kim in Rückblende über die Kindheit der gleichnamigen non-binären Hauptfigur, die mit der einsetzenden Alzheimererkrankung der Großmutter beginnt, sich mit ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu beschäftigen.
Herkunft bedeutet in “Blutbuch” vor allem zwei Dinge: Die von patriarchalen Denkmustern fast bis zum Verschwinden überschriebene weibliche Blutlinie einer Familie und die Frage nach der eigenen Positionierung in dieser Erbnachfolge. Für Kim greift diese Frage aber noch viel tiefer, da sie eben genau diese Trennlinie selbst infrage stellen:
Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU. WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI? Es schaut die anderen Kinder an. Die meisten haben sich schon entschieden. Sie stehen in der Zweierreihe und schauen erwartungsvoll. Das Kind fragt sich: Wie funktioniert diese Entscheidung? Ist das ein magischer Vorgang?
Blutbuch – Kim de l’Horizon, S. 87
Der Körper und körperliches Erleben sind untrennbar verbunden mit der Suche nach Antworten auf die Frage, wer man ist und wo man herkommt. Und jedem dieser Körper eingeschrieben sind seine eigenen Wunden. Wunden, die individuelle oder transgenerationale Traumata hinterlassen haben. Umso mehr Kim sich mit der Geschichte der mütterlichen Blutlinie auseinandersetzt, umso mehr drängen diese an die Oberfläche.
Da wäre einmal der unmögliche Versuch der Großmutter, die verstorbene Schwester zu ersetzen oder die in den Kriegsjahren folgende Hungersnot, welche sie auch in der Gegenwart immer noch zum Hungern zwingt. Zum anderen die durch ungewollte Schwangerschaft verlorene Zukunft der Mutter, die, wie Kim schreibt, immer “Jemand” sein wollte und nun nur “Frau” geworden war. Bis hin zu zahllosen Frauen über die Jahrhunderte, wie z.B. Ahnin Claudia Bianchi (1596-1650) und ihre Freundin Ira Marinero. Zwischen den Mädchen entwickelt sich eine tragische Liebesgeschichte, die sie über ihr ganzes Leben aneinanderbindet. Dennoch ist ihre Leben geprägt von Verlusten; sie verbringen ihr Leben oft getrennt voneinander in Armenhäusern, in Waldhütten, in Bordellen.
Der Ausgangspunkt: Sexualität und Jetzt
Schon im Prolog wendet sich Kim in Briefen an die Großmutter, um all die ungesagten Dinge anzusprechen: Ihre Entscheidung, Röcke und Schminke zu tragen; den Ohrring der Geliebten der Mutter; den Rassismus der Großmutter. All die gescheiterte Kommunikation wird nun nachgeholt und keines der Tabuthemen ausgelassen. So sind wir bis ins radikalste Detail mit involviert, wenn Kim zur Selbstfindung alle (Körper-)Grenzen überschreitet. Schonungslos werden Liebschaften, One-Night-Stands und unbequeme Körperfunktionen offengelegt.
Von Anfang an ist aber auch klar: Hier geht es nicht um Sex oder pure Provokation. Sex ist ein Mittel, um Leerstellen zu füllen. Wie selbst-verletzendes Verhalten wird Sexualität benutzt, um sich selbst zu spüren und gleichzeitig ist es Zeichen der Selbstermächtigung. Wie schon Freud und Lacan in ihren Ausführungen zu sadomasochistischem Verhalten schreiben, sind die Machtverhältnisse hierbei nicht zwingend klar. Macht hat auch derjenige, der Macht über sich erlaubt. Kim schwankt ebenfalls zwischen diesen zwei Polen: Sich spüren über Erniedrigung und gleichzeitig Selbstbehauptung durch Selbstbestimmung. So reflektiert Kim:
Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichteten Grenzen meines Körpers durchdringt und sich dahinter niederlässt.
Blutbuch – Kim de l’Horizon, S. 30
und wenige Zeilen später:
Ich schreibe dir dies, Grossmeer, weil ich seit langer Zeit versuche, über meinen Körper zu verfügen, wie ich will: über ihn zu sprechen, wie ich will, ihn zu bewegen, wie ich will, um ihn zu geniessen, wie ich will.
Blutbuch- Kim de l’Horizon, S. 31
Wissen als Macht
Wie die vorhergehenden Ausschnitte aus Kim de l’Horizons Roman ganz deutlich zeigen, geht es um Identitätsbildung auf unterschiedlichste Art. Sie betrifft den eigenen Körper, die Sexualität, die Herkunft – und den Bildungshintergrund. Nicht nur Kims Mutter macht ihnen unausgesprochen zum Vorwurf, sie seien Schuld daran, dass sie sich nicht aus ihrer Rolle als Frau und Mutter befreien habe können. Auch Kim selbst beobachtet die Großmeer, die mit groben Händen nach dem Zuckerlöffel und ihren Beinen greift. Dieses Bild wird abgeglichen mit der Illusionsscheinwelt von Disneyfilmen und ihren Prinzessinnen. Der Fernseher wird zum Fenster zur Welt, aus dem sich Kim hinauswünscht. Schon das Kind erkennt die Differenz zwischen dem, was es ist und was es einmal sein möchte.
Bildungs-Gap ist das Schlagwort, mit dem Viele in der heutigen Gesellschaft zu kämpfen haben. So auch Kim, die versuchen, sich nun mit ihrem Studium genau aus dieser “Lücke” herauszuarbeiten. Für eine bessere, selbstbestimmte Zukunft. Ebenfalls gehört es sich in dieser Gesellschaft “woke” und “aware” zu sein. Zwei wichtige Aspekte, die sich aber manchmal anfühlen, als wären sie wütende Parolen hinter einer Generation, bei denen ich unverständig daneben stehe. Umso beeindruckender fand ich es, wie Kim genau diesen Aspekt mit-reflektiert.
Sie gestehen sich ein, dass auch das Bücherregal mit Foucault oder Butler nur eine Form der “Ego-Aufspritzung” ist, wie der Luxusschlitten mit dem der ein oder andere ausländische Mitbürger durch die Stadt fährt. Beides ist ein Weg, um nach Außen zu kommunizieren, dass man sich von dem distanziert, wo man herkommt. Dass man etwas aus sich gemacht hat. Und ich denke, das ist auch die große Message des Buches: Wir sind alle gleich, obwohl wir so unterschiedlich sind. Wir haben ein Recht auf unsere Geschichte. Wir haben eine Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Lieben. Und wir haben ein Recht auf eine bessere Welt. Wie Blutbuch zeigt, ist das Finden der eigenen Sprache ein erster Schritt dahin.
Außerhalb der Meersprache
Schon am Anfang des Buches schreibt Kim, dass es schwer ist, sich “freizuschwimmen” von dem “Meer” – also der weiblichen Blutlinie – der Familie. Es braucht eine eigene Sprache. So wechselt Kim im letzten Kapitel zu Englisch. Sie erzählen von einem Wochenende mit ihren Studienkolleg:innen, einer Begegnung mit einer Art Schamanen, der ihnen aufzeigt, welche Geister sie verfolgen und einem fast kathartischem Erlebnis in einem kleinem Wasserpool in den Bergen.
Dabei erkennen sie, dass es ihr Weg ist, ihre Geschichte und die nicht ganz der Realität entsprechende Geschichte der Großmutter, aufzuschreiben. Es ist ihre Art, sich in die Familiengeschichte EINzuschreiben, ohne selbst, wie oft von der Familie erwartet, Nachfahren zu zeugen/gebären, um die Ahnenlinie fortzuführen:
“Isn’t it your story? or isn’t the question ‘Whose story is this?’ much more complicated? Aren’t we all interlinked in our stories, aren’t our stories a Matryoshka, aren’t you in my belly, Mum, and Grandma is in yours and so forth and so on? And then who gives birth to whom here?”
Blutbuch, Kim de l’Horizon, S. 279
Eine gute Frage. Und nur eine der vielen, die Jede:r von uns für sich entdecken muss. Blutbuch von Kim de l ‘Horizon dazu zu lesen, kann sicherlich nicht schaden. Eine absolute Leseempfehlung.
Das Buch: Blutbuch – Kim de l’Horizon erschienen bei Dumont 2022
Mein YouTube-Review zum Buch mit weiteren Einsichten: Let’s talk gender. Kim de l’Horizons Blutbuch
Wenn ihr Lust auf weitere Buchrezensionen habt: Über Traumata und Ersatzteile. Valerie Fritsch’ Herzklappen von Johnson & Johnson
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