Auf der Höhe des Textes sein, die Sätze nicht entgleiten lassen und das Visier öffnen, damit einen Sprache oder im besten Falle alles trifft – nur ein paar Beispiele dafür, was es für Lars Eidinger bedeutet Schauspieler oder auch nur Mensch zu sein. Filmproduzent Reiner Holzemer hat den Künstler mehrere Monate lang begleitet und zeigt nun in einem vielseitigen Porträt eine Persönlichkeit auf der Suche nach Perfektion, Wahrhaftigkeit und Spiegelung. Ein Resümee.
Das Neue, das bin ich
So oder so ähnlich antwortet Lars Eidinger einem Journalisten am Telefon auf dessen Frage, was denn nun nach 100 Jahren Jedermann noch Neues kommen könne. Wie passend, dass Eidinger sich dabei gerade auf dem Weg nach Salzburg befindet und im Zuge dessen gleich im nächsten Interview ähnlich bemüht-kreative Fragen beantworten kann. Dabei habe er sich was das Theater betrifft ja doch eher der Tradition verschrieben, so der Schauspieler noch in seinem Gespräch mit Wolfram Eilenberger in der Sendung Sternstunde Philosophie im Jahr 2021. Ein Widerspruch? Mitnichten.
Das Neue, das bedeutet für Lars Edinger die Individualität der Darstellung, die Figurenentwicklung mithilfe des Kostüms und in der Zusammenarbeit mit dem Schauspielensamble. Alles für ihn existenziell, um auf der Bühne Leistung zu bringen. Deshalb könne er auch gar nicht für sich selbst proben, so Eidinger. Es entstehe alles im spielerischen Moment zusammen mit einem Gegenüber. Für die Inszenierung des Jedermanns stehen dafür neben Verena Altenberger auch andere hochkarätige Schauspieler:innen wie z.B. Angela Winkler und Edith Clever bereit. Von den Kolleg:innen wird er bei seiner Ankunft in Salzburg sehr herzlich in Empfang genommen, erste Interviews werden abgedreht und am Abend, nachdem er noch kurz die Runden eines Rasenmähroboters mit seinem Handy abgefilmt hat, zieht er sich in sein Zimmer zurück und beginnt ganz im Stillen die ersten Textstellen für die anstehenden Proben zu lernen.
Ausgelutscht. Von Franz Moor zur Berliner Schaubühne
Auch wenn der Film mit dem Engagement rund um die Salzburger Festspiele beginnt und sich der Vorhang am Ende dort wieder schließt, lässt der Film zusammen mit Kollegen und Weggefährten peu à peu den Werdegang des Künstlers aufleuchten. Dabei ist und bleibt Berlin Dreh- und Angelpunkt Lars Eidingers, der 1995 seine Karriere dort an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch startete und 2000 zur Schaubühne unter der neuen Leitung von Thomas Ostermeier wechselte.
Ostermeier, der zuvor die Barracke organisierte und dafür 1998 mit dem Theater des Jahres ausgezeichnet wurde, war es auch, der Eidinger die Augen dafür öffnete, dass Theater mehr als „Ritterrüstung und Schwerter“ bedeute. Inzwischen sind die beiden enge Freunde und haben in ihrer jahrelangen Zusammenarbeit Kultfiguren der Theaterwelt in ein neues Licht gesetzt. Innovation war schon immer ein Anliegen des Schauspielers. Auch seinen Abschlussmonolog als Franz Moor aus Schillers Räuber hat er sich zur Hälfte er-lutscht, erzählt sein ehemaliger Lehrer Michael Keller: Mit einem Berg an Bonbons und ausdrucksstarker Mimik.
Seinen Platz in der Riege der großen deutschen Filmschauspieler fand Eidinger dann 2007 mit seinem ersten Filmengagement als Chris in dem Beziehungsdrama Alle anderen. Er selbst messe nach wie vor jedes Filmangebot an dieser Rolle, erzählt Edinger. Nicht zuletzt, weil der Film schon damals grundlegende Fragen der heutigen Zeit stellt. Zum Beispiel über die Vorstellung davon, was es heißt Mann oder Frau zu sein.
Zwischen „Cis-Privilegien“ und „neuer Männlichkeit“
Dass der Schauspieler auch privat immer wieder in die Schusslinie ebensolcher und anderer Debatten gerät, ist in den letzten Jahren medial gerne großflächig breitgetreten worden. Sei es wegen der von ihm designten ALDI-Tüte, mit der er sich vor einem Obdachlosencamp ablichten hat lassen oder seinem emotionalen Plädoyer bei einer Pressekonferenz 2020 dafür, gegen den allgegenwärtigen Hass mehr Liebe in die Welt zu bringen.
„Warum können Männer eigentlich nicht ihre Emotionen zeigen?“ fragt der Schauspieler nachdenklich. Eine Frage, die die im Folgenden auf der Leinwand eingeblendeten Hasskommentare nicht beantworten können. Menschen, die ihn nicht kennen, werfen ihm Selbstinszenierung vor, Pietätlosigkeit, White-Cis-Men-Befindlichkeiten. Kein Wunder, dass Eidinger im Laufe des Films immer wieder betont, sich nicht verstanden zu fühlen. An Antworten und einem Warum seien die Leute nie interessiert gewesen, sagt er an anderer Stelle bezugnehmend auf die Designtasche.
Dabei wurde Eidinger schon vor Jahren nachgesagt, er habe den Begriff der Männlichkeit ganz neu definiert, mit seinem Auftreten und seinem Stil ein ganz anderes Männerbild begründet. Fotos auf roten Teppichen zeigen den Star im Glitzertop, in einem NDR-Interview trägt er einen zitronengelben, mit Perlen besticken Strickcardigan und roten Nagellack. Natürlich sei es aufregend im Kleid auf die Straße zu gehen, sagt er in dem bereits genannten Gespräch mit Wolfram Eilenberger. Aber reicht das für ein neues Männerbild? Als zeitgemäßes Männerideal betitelt zu werden sei ihm sowieso unangenehm. Eine viel zu große, unmögliche Aufgabe, meint er weiter.
Der deutsche Hamlet oder die Frage der Fragen
Sein oder nicht sein. Am Ende geht es um die Kunst. Sie ist das Zentrum Eidingers und für ihn eine Form von im Alltag kaum zu erreichender Wirklichkeit. Er vergleicht es mit der Verpuppung einer Raupe, die zum Schmetterling wird. Es sei immer noch das selbe Wesen, doch es könne fliegen. Analog dazu sei er auf der Bühne zu Dingen fähig, die er privat niemals schaffen könne. Auch das mag etwas zu paradox klingen. Also ein weiteres Missverständnis? Ein weiteres Nicht-Verstanden-Werden, mit dem sich der Schauspielstar konfrontiert sieht?
Nicht, wenn man erlebt, wie er z.B. als Richard III. über die Bühne wütet oder sich als nervtötender Hamlet mit Tourette durch den Sand wühlt. Eidinger tobt, schreit, weint – und nichts ist ihm für eine Rolle zu hässlich, zu grotesk, zu riskant. Es ist genau diese Ambivalenz, die ihn für das Publikum so anziehend macht. Er spielt den an den Glöckner von Notre Dame erinnernden Richard III. mit Hingabe. In einem Moment in voller Rage, im nächsten seine Einsamkeit erkennend und sich lethargisch das Gesicht zu einer Totenmaske malend. Für seine Rolle als Hamlet hat ihn Cate Blanchett als „größten Schauspieler der Welt“ bezeichnet.
Dass Edinger voll in seinen Rollen aufgeht veranschaulicht auch ein Moment im Dokumentarfilm, den der Schauspieler selbst als Schlüsselszene bezeichnet. Während der Proben zum Jedermann spielt Eidinger eine Sequenz des Stücks in der sich seine Figur existenzieller Todesangst ausgesetzt sieht. Als Regisseur Michael Sturminger sich dabei abwendet, um etwas mit einer Kollegin zu besprechen, reagiert Eidinger zuerst verwirrt. Dann rastet er aus. Gerade noch vertieft in der Rolle, wirkt es, als hätte man ihn aus einer anderen Welt herausgerissen. Und dem Zuschauer wird klar: Eidinger fordert für sein Spiel volle Aufmerksamkeit ein. Er will gesehen werden, wenn er sich so auf der Bühne öffnet.
Der menschliche Blick: Spiegelbild und Bühne
Schauspielen als Identitätssuche. Für Lars Eidinger – neben der Bestätigung durch das Gegenüber – der Grund, warum er Schauspieler ist. Das unbedingte Bedürfnis gesehen, verstanden zu werden scheint seine treibende Kraft. Die Bühne rund um die Salzburger Festspiele gibt ihm eine weitere Möglichkeit dazu.
Als Jedermanns Ende naht, begreift dieser, dass er die falschen Prioritäten gesetzt hat. Die materiellen Werte, die Zentrum seines Lebens waren, werden im Angesichts des Todes nutzlos. Er ist völlig allein. Niemand ist bei ihm, um ihn auf seinem letzten Weg vor den großen Richter zu begleiten und für ihn Rechnung abzulegen. Selbst der Eimer voll Geld mutiert zum grimassen-ziehenden Joker und verhöhnt ihn. „Zurüüüüüüück!!!“ schreit Jedermann verzweifelt, wohlwissend, dass seine Fehler nicht rückgängig gemacht werden können und er die Zeit nicht zurückdrehen kann. Der Film zeigt Eidinger bei der emotionalen Probe ebendieser Szene, wie er dabei sichtlich bewegt ein Lied von Bertolt Brecht zitiert . In der nächsten Einstellung sieht man das Ensamble diskutieren.
Während Eidingers Kollegen die Szene selbstredend finden und das Lied für nicht zwingend notwendig halten, wird deutlich, dass es für den Schauspieler zumindest vorerst Teil der Szene sein muss. Als er erklärt, was es für ihn bedeutet, wird klar, wie sehr er die Erkenntnis Jedermanns selbst begreift. Verlorene Zeit. Verlorene Chancen. Die Angst vor dem Tod. Lars Eidinger fühlt seine Figuren. Weint mit ihnen. Rings um ihn, wie so oft, betretenes Schweigen. Am Ende hat das Publikum die Wahl. Abwenden – oder Mitfühlen, Spiegelbild sein. Und was dann bleibt, wie Eidinger selbst über die Schlussszene des Hamlets sagt, ist nicht, wie oft falsch zitiert, Schweigen. Es ist (friedliche) Stille.
Bis 2. Mai im Scharfrichterkino oder im Proli Passau, Tickets: Lars Eidinger – Sein oder nicht sein – Cineplex Passau
Trailer: LARS EIDINGER: Sein oder nicht sein Trailer German Deutsch (2023) Exklusiv – YouTube
Vielen Dank an die Holzemer Film Produktion und Media-Office-Presse für die zur Verfügung gestellten Pressefotos. Blog-Titelbild: Rainer Holzemer Film. Copyright für alle Bilder verbleibt bei den genannten Urhebern.
Eine andere Film-Rezensionen findet ihr hier: Zona: Auf den Spuren von Tarkovsky’s Filmklassiker Stalker – Natascha Huber (natascha-huber.de)
Hinweis: unbezahlte Werbung / unbezahlte Verlinkung
Hammer Text Natascha! Obwohl ich keine Berührungspunkte mit Lars Eidinger habe, habe ich deinen Blogeintrag total gerne gelesen. Ganz viel Background-Infos, danke!🙏🏻
Vielen lieben Dank, ich freue mich, dass ich dir Lars Eidinger etwas näher bringen konnte 🙂 Du solltest auf jeden Fall mal einen seiner Filme sehen – es macht große Freude, ihn in seinen Rollen zu sehen!